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Blitz-Trip zum Gemütsfrieden

-- Der Spiegel, 16 September 2002, Psychologie; S. 184. Thimm, Katja --


Wissenschaftler in Holland behandeln traumatisierte Menschen im Internet. Die Therapeuten bieten auch ausgebrannten Managern Hilfe an.

Wer beim Kugelfisch-Dinner mit den japanischen Geschäftspartnern plötzlich heult und das Gesicht verliert; wer beim Persönlichkeits-Coaching unvermittelt in die Stotterfalle tappt; wer beim Incentiv-Klettern in den Dolomiten abstürzt und hilflos in den Seilen hängt, für den weiß Alfred Lange Rat.

Typischer Fall von Managerkrankheit, diagnostiziert er. Die gilt es loszuwerden - und zwar schnell. Langwieriges Palaver in einer traditionellen Therapie verschwendet nur Zeit. Der Ausgebrannte sucht Doping fürs Gemüt, den Bypass für die Seele.

Mit einem Angebot im globalen Datennetz will Lange das Welt-Weit-Wimmern erschöpfter Macher verstummen lassen. Einzige Voraussetzung: Niederländisch. Lange, Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie an der Universität Amsterdam, hat eine Ecke in dem sachlichen Neubau für eine virtuelle Couchgruppe freigeräumt. Vor einem Dutzend Computern sitzen eigens ausgebildete Therapeuten und bearbeiten die eintreffende Seelenpein nach strengen Regeln.

Die Nöte kommen online in die Praxis; gegenüber blitzen blanke Klinkerfassaden, typisch Holland, direkt an der Gracht. Doch das haben die Patienten nie zu Gesicht bekommen - so wenig wie ihren Therapeuten.

"Interapy" heißt Langes Konzept, das er zunächst als Kur für Menschen mit "posttraumatischen Belastungsstörungen" entwickelt hat. Sie fühlen sich von Erinnerungen an schlimme Erlebnisse verfolgt: Vergewaltigungen, Überfälle, Naturkatastrophen. Seit kurzem behandeln die Amsterdamer Netztherapeuten auch Zeitgeist-Opfer - Männer und Frauen, die bis zum Burn-out für Beruf und Karriere gebrannt haben.

Der Seelendoktor stellt eine Ferndiagnose und schickt Elektropost: Was nach Quacksalberei klingt, ist in den USA längst Teil der Internet-Kultur - deutschen Psychotherapeuten hingegen nicht erlaubt. Der virtuelle Austausch zwischen Helfer und Patient gilt hier als unseriös, denn bei schweren psychischen Störungen sei das Risiko von Fehldiagnosen zu hoch. Noch fehlen ernst zu nehmende Forschungsergebnisse.

Die will der holländische Wissenschaftler nun liefern. Er wirbt damit, dass seine Leute, anders als die meisten Psycho-Dienstler im weltweiten Selbsthilfenetz, studierte Verhaltenspsychologen sind.

Mit ausgeklügelter Fragetechnik sortieren sie ihr Klientel vor. "Psychotikern, Süchtigen, Schwerstdepressiven oder Selbstmordgefährdeten können wir im Netz nicht helfen", sagt der Wissenschaftler, der standardisierte Online-Fragebögen für zuverlässiger hält als die Diagnose von Mensch zu Mensch: "Verwechseln Sie häufig Wochentage? Sehen Sie Dinge, die andere nicht sehen?" Wer hier "Ja" ankreuzt, dem wird eine klinische Behandlung empfohlen.

"Wir beraten unsere Patienten und stellen ihnen immer wieder schriftliche Hausarbeiten", erklärt der Psychologe. Auf einer persönlichen und zweifach verschlüsselten Website legt jeder Patient seine Stillarbeit ab - insgesamt zehn kurze Texte, die sich mit seinem Trauma befassen.

Die erste Phase - Konfrontation - erinnert an Schulaufsätze der Machart "Mein schlimmstes Ferienerlebnis". So schildert Annette, wie ein widerlicher Typ sie vor drei Jahren auf einem Parkplatz zusammenschlug. Blaue Flecken und Rippenbruch hat sie überwunden, die Angst ist geblieben. "Beste Annette", rät ihr die virtuelle Briefkastentherapeutin, "erkläre genau, was Du dabei gehört, gerochen, geschmeckt und gefühlt hast." Und dann, im nächsten Behandlungsschritt: "Beste Annette, beschreibe das Erlebnis aus der Sicht eines Unbeteiligten."

In diesen Berichten, hat Lange festgestellt, bewerten die Patienten ihre Erinnerungen oft ganz neu, weil sie die Distanz eines Zeugen hätten. Von den Vorzügen seiner Schreibtherapie ist er überzeugt: "Der neue, ungewohnte Blick auf die eigenen Ängste prägt sich so viel besser ein als in der üblichen Gesprächssitzung." Wer bis zur zehnten Stufe ("Abschiedsbrief an das Trauma") durchhält, ist nach sechs Wochen dort angelangt, wo andere ein Leben lang nicht hinkommen: am Ende einer Therapie.

Burn-out-Patienten brauchen fast doppelt so lange und sind auch sonst weit mehr gefordert. Nicht nur schreiben sollen sie, sondern auch durchatmen und loslassen; der virtuelle Therapeut heißt sie Schlafhygiene, Muskelentspannung und Grübelstopps üben, zu festen Zeiten, in denen sie sich keine "dysfunktionellen Gedankenmuster" leisten sollen.

Die Seelenbeschau im Laptop hat, wie Lange meint, nicht nur den Vorteil, dass ihr schnelles Ende von Anfang an abzusehen ist. Sie ist vor allem jederzeit und allerorts zugänglich - eine Therapie, wie geschaffen für Vielflieger im Irgendwo.

"Banken, Behörden und Versicherungen schicken uns ihre Mitarbeiter", berichtet Lange, der derzeit an einer deutschen und einer englischen Übersetzung seines Hilfsprogramms bastelt.

Ginge es nach ihm, kämen künftig nicht nur Manager, sondern auch Ärzte, Lehrer, Mütter und Krankenschwestern in den Genuss der elektronischen Lebenshilfe. Stolz zeigt der Professor seine Forschungsergebnisse vor: Bei den meisten der 26- bis 60-jährigen Patienten einer Pilotstudie seien die Burn-out-Symptome zurückgegangen. Erschöpfung, Angst und auch Zynismus verschwanden, "selbstbewusstes Kompetenzgefühl" kehrte wieder.

Auch von seinen Trauma-Patienten berichtet Lange Erfreuliches: "80 Prozent litten nach Therapie-Ende deutlich weniger unter Stimmungstiefs, Ängsten und Schlafproblemen." Auch 18 Monate später, so ergab eine Folgestudie, ging es ihnen noch besser als den unbehandelten Unglücklichen in der Kontrollgruppe.

1250 Euro kostet der Blitz-Trip zum Gemütsfrieden, Burn-out-Patienten zahlen noch mal 250 Euro mehr - so fühlen sich am Ende alle reicher: Reden ist Silber. Schreiben ist Gold. KATJA THIMM


S.184, Netzpsychologe Lange: Bypass für die Seele, THOMAS SCHLIJPER